Den Auszug
aus dem 6. Brief können Sie sich als Datei herunterladen.
Haben Sie gewusst, dass alle schönen
Frauen einen Buckel haben? Einen unsichtbaren Buckel,
von dem sie mit den abenteuerlichsten Dingen abzulenken
versuchen? Der Körper meiner Mutter in den immer
schwarzen Stoffen war ein großes Zeichen, das
sie in die Stadt und unser Haus schrieb. Beim Vater
war sie ein Ausrufezeichen mit grade zurückgenommenen
Ellenbogen und durchgedrückten Knien oder ein
Fragezeichen, wenn sie sich zu ihm beugte, um ihn eine
Weile erzählen zu lassen, was er dachte. Bei mir
war sie manchmal ein ganzes Wort, das in der Tür
oder neben meinem Bett stand. Eine Begrüßung
oder eine Zurechtweisung, geschrieben in den Linien
von Beinen und Armen, Hals und Bauch. Ich lernte sie
früher lesen als Bücher. Und es gab in der
Stadt auf den großen Plakaten und Schildern kein
einziges Wort, das sich durch die Krümmung eines
Bogens so grundlegend verändern konnte wie sie
durch das Anwinkeln eines Beins.
Ich verstand nie, solange ich in der Stadt war, weshalb meine Mutter mir
bei all unseren Zärtlichkeiten von Anfang an verboten hatte, ihren
Rücken zu berühren. Ich kannte sie nackt beim Baden und morgens
in ihrer Wäsche, und ich sah nie etwas an diesem Stück Haut,
keine Narbe oder keine Verletzung, die mich hätten misstrauisch werden
lassen. Und noch ein Verbot gab es bei uns, an das sich auch der Vater
zu halten hatte. Im Garten wucherten fremdartige Gewächse vor sich
hin, die meine Mutter großzog, obwohl sie wirklich nicht schön
waren, und ganz hinten, wo die älteren Bäume besonders dicht
standen, gab es eine Bank, auf der sie ab und zu saß, wenn sie allein
sein wollte. Und mir wie dem Vater war es strengstens verboten, sie da
zu stören. Wenn etwas besonders dringend sei, solle ich vom Haus aus
nach ihr rufen, aber niemals, so sagte sie, dürfe ich sie dort überraschen.
Aber natürlich war ich neugierig und schlich mich einmal doch an sie
heran, auf Zehenspitzen, ganz vorsichtig, damit das Unterholz nicht knackte.
Und ich sah meine Mutter, meine eigene Mutter, sich ein paarmal nach allen
Seiten umsehen. Dann seufzte sie und ließ sich auf die Bank fallen.
Ich sah sie die Arme zum Nacken heben und die Hände den Verschluss
ihres Kragens lösen und auch die Knöpfe am Rücken bis zur
Hüfte. Sie schälte sich aus dem Mieder, trug nichts mehr darunter
und zog die Schultern so fest hoch, dass man die Anstrengung in ihrem Gesicht
sehen konnte, und als sie sie wieder entspannte, sackte ihr Oberkörper
ein Stückchen nach vorne.
Und da sah ich ihn: einen weißen, geschwungenen, sich nach oben verjüngenden
Buckel, der schwer auf ihren Schultern lastete und den sie mit einem erstaunlichen
Muskelspiel im schwankenden Gleichgewicht hielt. Bei den Schulterblättern
fing es an: Sehnig wölbte sich das feste Fleisch nach oben, und die
Kuppel, die fast bis zu ihrem Hinterkopf reichte, war kaum merklich mit
Haarflaum bewachsen. Die Haut schimmerte hell, und wenn meine Mutter den
Kopf bewegte, ging ein kurzes Zittern und Grollen durch den Buckel auf
ihrem Rücken. Sie ließ ihre Arme hängen und hatte den Kopf
gebeugt, so dass sich ihr Nacken streckte. Nicht die Wirbelsäule war
verwachsen, sondern die Wölbung lastete knochenlos und anscheinend
sehr schwer auf ihr, denn meine Mutter atmete lauter als sonst, und ihre
Schultern sanken mit jedem Atemzug immer tiefer. Ihre sonst so schnellen
und sparsamen Bewegungen wurden träge und mühsam. Ich musste
an die Vögelinnen denken, die ebenfalls so einen kleinen Buckel unter
ihren Federn hatten. Das war mir vorher nicht aufgefallen. Und auch die
Engel, die meine Mutter einmal für mich gezeichnet hatte, hatten diese
Wölbung am oberen Rücken.
Ich stand atemlos zwischen den Bäumen und betrachtete sie, ich versuchte,
sie zu lesen, wie sie dasaß, aber ihr Körper schrieb ein Wort,
das ich nicht kannte. Ich hatte sogar den Eindruck, als sei es mehr als
ein Wort, als forme sich durch diesen Buckel ein ganzes Gedicht aus ihren
Muskeln, Knochen und Sehnen. Ich hätte gerne meine Hände auf
die Verwachsung gelegt, denn ich dachte mir, vielleicht könnte es
auch so sein, dass ich, weil ich das Verbot übertreten hatte, plötzlich
blind geworden war, und dann ließe sich das Wort, das sich da krümmte,
vielleicht durch Tasten entziffern. Aber ich blieb, wo ich war, und fühlte
mich, als würden sich von jetzt an ganz plötzlich andere Silben
aufeinander reimen als bisher.
Jetzt weiß ich also, dass sich zwischen den Schulterblättern
mancher Frauen noch etwas anderes befindet, etwas, das durch verstärkte
sehnige Muskeln gehalten werden muss und das zu verstecken alle Kraft von
Frauen wie meiner Mutter fordert. An diesem Tag verstand ich, wieso sie
mit dem Alten auf die Felder ging, wieso sie all diese Dinge tat, die sie
von den Stadtfrauen unterschied und die sie so verdächtig machten.
Ich verstand, was sie den Vögelinnen gesagt und wieso man sie in dem
Boot über den See gebracht hatte. Und nun war mir auch klar, weshalb
ich meine Mutter dort nicht berühren durfte. Sie befürchtete,
ich könnte ihn fühlen, den Buckel, und noch mehr fürchtete
sie wohl, ich könnte fragen, woher sie diesen Auswuchs habe, der unsichtbar
blieb, bis sie sich allein glaubte. Mittlerweile denke ich, dass sie, als
ich älter wurde, vielleicht doch gerne mit mir darüber gesprochen
hätte, denn auch mein Körper zeigte ja später Verformungen,
aber dazu kam es dann nicht mehr.
Leider trat ich dann, während ich immer noch zwischen den Bäumen
kauerte, aus Versehen auf irgendein Tier, das sofort schrie. Dieser kurze
Laut reichte aus, und meine Mutter streckte sich augenblicklich und war
wieder hoch aufgerichtet mit gradem, weißem Engelsnacken, schnürte
ihr Mieder zu und streifte ihr Kleid über. Mich entdeckte sie nicht,
und ich weiß nicht, ob ich damit großes Glück hatte oder
eben nicht. |